Dörthe Priesmeier bevorzugt fast vergessene Gemüsesorten und bewahrt damit ein Stück Kulturgeschichte
Die Vielfalt auf unseren Tellern schwindet: Über 75 Prozent der historischen Gemüsesorten sind bereits verschwunden, verdrängt von wenigen Hochleistungssorten aus industrieller Züchtung. Die passionierte Hobbygärtnerin Dörthe Priesmeier hat sich dem Erhalt alter Kultursorten verschrieben und baut in ihrem Garten gezielt seltene Gemüse an.
Der Verlust alter Gemüsesorten ist ein schleichender Prozess, der oft unbemerkt bleibt. Während Supermärkte auf standardisierte, transportfähige und optisch perfekte Sorten setzen, verschwinden jahrhundertealte Kulturpflanzen still und leise aus den Gärten. Die Hobbygärtnerin Dörthe Priesmeier hat sich diesem Trend bewusst entgegengestellt und widmet einen großen Teil ihrer Anbaufläche historischen Gemüsesorten. Alte Sorten bringen oft Eigenschaften mit, die in modernen Züchtungen verloren gegangen sind: intensivere Aromen, bessere Anpassung an regionales Klima oder natürliche Resistenzen gegen bestimmte Schädlinge. Ihr Garten ist dabei zu einer kleinen Arche Noah für gefährdete Gemüsesorten geworden, in dem jede Pflanze ihre eigene Geschichte erzählt.
Inhaltsverzeichnis
Warum alte Sorten verschwinden
Industrialisierung und Standardisierung
Der Rückgang historischer Gemüsesorten hat vielfältige Ursachen, mit denen sich Dörthe Priesmeier intensiv auseinandergesetzt hat. Die Industrialisierung der Landwirtschaft bevorzugt Sorten, die sich maschinell ernten lassen, einheitlich reifen und lange Transportwege überstehen. Geschmack und Sortenvielfalt treten dabei in den Hintergrund. Ein einzelner Supermarkt führt durchschnittlich nur fünf bis sechs verschiedene Tomatensorten – vor hundert Jahren waren in deutschen Gärten noch hunderte unterschiedliche Sorten verbreitet.
Hinzu kommt die zunehmende Regulierung des Saatgutmarktes: Nur offiziell zugelassene Sorten dürfen kommerziell vertrieben werden, und die Zulassung ist kostspielig. Die Kosten für eine EU-Sortenzulassung können mehrere tausend Euro betragen – ein Aufwand, der sich für kleine Züchtungsinitiativen oder Privatpersonen nicht rechnet. Für alte Regionalsorten, die oft von Generation zu Generation weitergegeben wurden, lohnt sich dieser bürokratische und finanzielle Aufwand nicht.
Veränderte Essgewohnheiten
Dörthe Priesmeier bezieht ihr Saatgut daher überwiegend aus privaten Tauschkreisen und von gemeinnützigen Erhaltungsinitiativen, die sich der Bewahrung verschrieben haben. Diese Organisationen arbeiten oft im rechtlichen Graubereich, da sie Saatgut tauschen statt verkaufen. Ein weiterer Faktor ist der Wandel der Ernährungsgewohnheiten. Gemüsesorten wie Haferwurzel, Pastinake oder Steckrübe galten lange als altmodisch und „Arme-Leute-Essen“ – entsprechend gering war die Nachfrage.
Die Nachkriegszeit brachte einen regelrechten Boom moderner Hybrid-Sorten, die höhere Erträge versprachen. Traditionelle Sorten galten als rückständig und verschwanden aus den Katalogen der Saatgutfirmen. Erst in den letzten Jahren erleben diese Kulturen eine Renaissance, getrieben durch das wachsende Interesse an regionaler und saisonaler Küche. Slow-Food-Bewegungen und die zunehmende Wertschätzung für Biodiversität haben alten Sorten wieder zu mehr Aufmerksamkeit verholfen. Dörthe Priesmeier freut sich über diesen Trend, der auch ihr Hobby befeuert und es einfacher macht, Gleichgesinnte zu finden.
Die Sortenvielfalt im Garten von Dörthe Priesmeier
Tomaten und Kartoffeln
In ihrem etwa 80 Quadratmeter großen Gemüsegarten kultiviert Hobbygärtnerin Priesmeier jedes Jahr zwischen 15 und 20 verschiedene historische Sorten. Die Auswahl richtet sich nach Verfügbarkeit des Saatguts, Anbaubedingungen und persönlichen Vorlieben. Besonders am Herzen liegen ihr alte Tomatensorten mit ihren unterschiedlichen Formen, Farben und Geschmacksprofilen. Die Vielfalt ist beeindruckend: Von kleinen Cocktailtomaten bis zu riesigen Fleischtomaten, von gelb über orange und rot bis hin zu fast schwarzen Sorten.
Zu ihren Favoriten gehören folgende historische Kultursorten:
- Ochsenherz-Tomaten: Große, gerippte Früchte mit wenig Kernen und intensivem Geschmack – ideal für Salate
- Bamberger Hörnchen: Kleine, längliche Kartoffeln mit festkochender Konsistenz und nussigem Aroma
- Gelbe Bete ‚Burpees Golden‘: Mild-süßliche Alternative zur roten Bete, färbt beim Kochen nicht
- Palmkohl ‚Nero di Toscana‘: Dunkelgrüner, blasiger Kohl mit hervorragendem Geschmack, frosthart bis -10°C
- Mairübe ‚Goldball‘: Alte, schnellwachsende Rübensorte mit zartem Fleisch
- Kerbelrübe: Fast vergessenes Wurzelgemüse mit maronenartigem Geschmack
Anzucht und Wachstum
Die Anzucht beginnt bei Dörthe Priesmeier meist im zeitigen Frühjahr auf der Fensterbank. Viele alte Sorten benötigen längere Kulturzeiten als moderne Züchtungen und sind in ihrem Wachstum weniger gleichmäßig – dafür entschädigen sie mit außergewöhnlichen Aromen und robuster Gesundheit. Während moderne Tomaten oft nach 70 bis 80 Tagen erntereif sind, brauchen manche historische Sorten 100 Tage oder mehr. Diese längere Reifezeit ermöglicht aber auch eine intensivere Geschmacksentwicklung. Sie hat gelernt, geduldig zu sein und den Pflanzen die Zeit zu geben, die sie brauchen. Manche Sorten reifen erst im Spätherbst, andere sind bereits im Hochsommer erntereif. Diese gestaffelte Reife bedeutet zwar mehr Planungsaufwand, beschert ihr aber auch eine kontinuierliche Ernte über viele Monate hinweg. Besonders schätzt sie die Robustheit vieler alter Sorten: Sie kommen oft besser mit Wetterextremen zurecht als hochgezüchtete moderne Varianten, die auf optimale Bedingungen angewiesen sind.
Saatgutgewinnung: Vom Samen zur Pflanze zur Samenreife
Einjährige Kulturen
Die Kunst der Saatgutgewinnung hat sich Dörthe Priesmeier über Jahre hinweg angeeignet. Nicht alle Gemüsearten sind dabei gleich einfach zu handhaben: Während Tomaten, Bohnen und Erbsen als Selbstbefruchter unkompliziert sind, erfordern Kreuzblütler wie Kohl oder Rüben besondere Aufmerksamkeit, um Sortenvermischungen zu vermeiden. Die Saatgutgewinnung beginnt bereits bei der Auswahl der richtigen Pflanzen während der Wachstumsphase.
Bei Tomaten lässt Priesmeier einige besonders schöne, gesunde Früchte vollständig ausreifen, entnimmt die Samen und fermentiert sie einige Tage in Wasser. Dieser Fermentationsprozess ist entscheidend: Er ahmt die natürliche Verrottung der Frucht nach und entfernt dabei die gelartige Hülle um die Samen, die Keimhemmstoffe enthält. Nach drei bis vier Tagen werden die Samen gründlich gewaschen und auf Küchenpapier ausgebreitet zum Trocknen. Wichtig ist, dass sie wirklich vollständig durchtrocknen, sonst können sie schimmeln.
Anschließend werden die Samen in beschrifteten Papiertütchen dunkel und kühl gelagert. Dörthe Priesmeier notiert auf jeder Tüte das Erntejahr, die Sortenbezeichnung und besondere Eigenschaften der Mutterpflanze. Bei richtiger Aufbewahrung bleiben Tomatensamen vier bis sechs Jahre keimfähig, manchmal sogar länger.
Zweijährige Kulturen
Schwieriger gestaltet sich die Saatgutgewinnung bei zweijährigen Kulturen wie Möhren, Pastinaken, Rüben oder Kohl. Diese Pflanzen bilden erst im zweiten Jahr Blüten und Samen – eine Herausforderung, die Geduld und Planung erfordert. Dörthe Priesmeier überwintert dafür ausgewählte Exemplare entweder im Beet oder gräbt sie aus und lagert sie frostfrei in einer Kiste mit Sand im Keller. Die Lagertemperatur sollte bei etwa 2 bis 5 Grad Celsius liegen.
Im Frühjahr werden die überwinterten Pflanzen wieder ausgepflanzt und durchlaufen dann ihre Blüte. Möhren beispielsweise entwickeln im zweiten Jahr beeindruckende Doldenblüten, die stark an Wildmöhren erinnern. Nach der Blüte reifen die Samen über mehrere Wochen. Sie erntet die Samenstände, wenn sie braun und trocken sind, und hängt sie zum Nachtrocknen in einem luftigen Raum auf. Anschließend werden die Samen durch Reiben und Sieben von den Pflanzenresten getrennt.
Selektionskriterien
Ein besonderes Augenmerk legt sie auf die Auswahl der Samenpflanzen: Nur gesunde, typische Exemplare mit den gewünschten Sorteneigenschaften kommen für die Vermehrung infrage. Bei Möhren bedeutet das: gerade gewachsen, intensive Farbe, guter Geschmack, keine Schädlingsschäden. Bei Tomaten: sortentypische Form und Farbe, guter Ertrag, Gesundheit der Pflanze. Diese bewusste Selektion ist entscheidend, um die Sortenqualität über die Jahre zu erhalten oder sogar zu verbessern. So erhält Dörthe Priesmeier über die Jahre die Qualität und Reinheit ihrer Sorten und passt sie gleichzeitig an die Bedingungen in ihrem Garten an.
Herausforderungen beim Erhalt historischer Sorten
Praktische Schwierigkeiten
Der Anbau alter Gemüsesorten bringt spezifische Herausforderungen mit sich, die Dörthe Priesmeier aus eigener Erfahrung kennt. Viele historische Sorten sind weniger ertragreich als moderne Züchtungen und benötigen oft mehr Platz oder längere Kulturzeiten. Ihre uneinheitliche Reife erschwert zudem die Ernteplanung – während moderne Sorten so gezüchtet sind, dass sie möglichst gleichzeitig erntereif werden, reifen alte Sorten nach und nach. Das bedeutet häufigeres Durchsehen der Beete und gestaffelte Ernten.
Auch die Beschaffung von Saatgut kann kompliziert sein. Während gängige Sorten in jedem Gartencenter erhältlich sind, müssen Raritäten oft mühsam über spezialisierte Anbieter oder Tauschbörsen bezogen werden. Manche Sorten sind so selten, dass nur eine Handvoll Menschen in Deutschland sie noch kultivieren. Der Verlust durch Missernten oder Fehler bei der Saatgutgewinnung kann dann bedeuten, dass eine Sorte endgültig verschwindet.
Sortenvermischung vermeiden
Dörthe Priesmeier ist Mitglied in mehreren Online-Foren für Saatguttausch und nimmt regelmäßig an regionalen Tauschveranstaltungen teil. Hier trifft sie auf Menschen, die dieselben Sorten anbauen oder seltene Raritäten anbieten können. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Gefahr der Sortenvermischung durch Fremdbestäubung. Bei kleinräumigem Anbau mehrerer Sorten derselben Art – etwa verschiedene Kohlsorten oder mehrere Kürbissorten – ist es kaum möglich, sortenreines Saatgut zu gewinnen, da Insekten die Pollen zwischen den Pflanzen übertragen. Sie löst dieses Problem durch zeitlich versetzte Aussaat, sodass die Blütezeiten nicht überlappen, oder durch die Beschränkung auf eine Sorte pro Jahr zur Samengewinnung. Bei besonders wertvollen Sorten wickelt sie einzelne Blüten vor der Öffnung in feinmaschige Netze ein und bestäubt sie per Hand – eine aufwändige, aber sichere Methode. Manche Erhaltungsgärtner bauen sogar Isolationskäfige, um verschiedene Sorten gleichzeitig anzubauen, ohne dass sie sich kreuzen können.
Vernetzung und Austausch in der Erhaltungsgemeinschaft
Lokale Saatgutfeste
Die Bewahrung alter Sorten funktioniert am besten im Netzwerk. Dörthe Priesmeier hat über die Jahre Kontakte zu zahlreichen anderen Hobbygärtnern geknüpft, die ebenfalls historische Sorten anbauen. Der Austausch von Saatgut, Erfahrungen und Anbautipps ist für sie unverzichtbar geworden. Niemand kann alle gefährdeten Sorten allein bewahren – die Aufgabe ist zu groß. Durch Vernetzung verteilt sich die Verantwortung auf viele Schultern.
Besonders wertvoll sind für sie die regionalen Saatgutfeste, die meist im Frühjahr stattfinden. Hier treffen sich Erhaltungsgärtner, tauschen Samen und Geschichten über ihre Sorten aus. Die Atmosphäre auf diesen Veranstaltungen ist besonders: Menschen, die sonst als „Garten-Nerds“ belächelt werden, finden hier Gleichgesinnte, die ihre Begeisterung für eine fast vergessene Bohnensorte oder eine seltene Kürbisart teilen.
Online-Communities
Online-Plattformen erweitern ihren Radius deutlich. In spezialisierten Foren und sozialen Medien tauscht sie sich mit Gleichgesinnten aus ganz Deutschland aus, teilt Fotos ihrer Pflanzen und erhält Tipps zur Kultivierung besonders anspruchsvoller Sorten. Manche Online-Communities haben Tausende Mitglieder und organisieren jährlich große Saatguttauschaktionen, bei denen Hunderte verschiedene Sorten den Besitzer wechseln.
Dieser überregionale Austausch hilft dabei, Sorten zu verbreiten und ihre Erhaltung auf mehrere Schultern zu verteilen. Dörthe Priesmeier sieht sich als Teil einer größeren Bewegung, die gemeinsam gegen das Vergessen ankämpft. Wenn sie eine Sorte an fünf andere Gärtner weitergibt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Sorte überlebt – selbst wenn bei ihr selbst einmal eine Ernte ausfällt. Diese gegenseitige Absicherung ist das Rückgrat der Erhaltungsarbeit.
Geschmack und Küche: Der kulinarische Wert alter Sorten
Intensive Aromen
Der wahre Lohn für den Mehraufwand zeigt sich auf dem Teller. Dörthe Priesmeier schwärmt vom intensiven Geschmack vieler alter Sorten, der moderne Supermarkt-Gemüse oft blass aussehen lässt. Eine ‚Ochsenherz‘-Tomate schmeckt vollkommen anders als eine standardisierte Rispensorte – fruchtiger, komplexer, mit mehr Säure und Süße zugleich. Der Geschmacksunterschied ist so deutlich, dass selbst Menschen, die normalerweise keine Tomaten mögen, oft zu Fans werden.
Auch die farbliche Vielfalt bereichert ihre Küche: Gelbe und gestreifte Tomaten, violette Möhren, weiße Auberginen oder mehrfarbiger Mangold machen jedes Gericht zum optischen Erlebnis. Kinder sind oft begeistert von buntem Gemüse und probieren eher, wenn die Farben außergewöhnlich sind. Eine violette Möhre schmeckt im Prinzip wie eine orange – aber sie sieht spektakulär aus und macht neugierig.
Gestaffelte Erntezeiten
Priesmeier experimentiert gerne mit traditionellen Rezepten, die speziell auf diese alten Sorten abgestimmt sind. Viele alte Kochbücher enthalten Rezepte für heute fast vergessene Gemüsearten, die sie nachkocht und an den modernen Geschmack anpasst. Besonders schätzt sie die unterschiedlichen Reifezeiten: Während moderne Sorten oft auf gleichzeitige Ernte gezüchtet sind, reifen historische Sorten gestaffelt. Das bedeutet zwar mehr Ernteaufwand, beschert ihr aber über Wochen hinweg frisches Gemüse statt einer Schwemme auf einmal.
Dörthe Priesmeier genießt diese kontinuierliche Ernte und plant ihre Mahlzeiten entsprechend der aktuellen Verfügbarkeit. Der Speiseplan richtet sich nach dem, was der Garten gerade hergibt – eine Form der Selbstversorgung, die Kreativität in der Küche fördert und gleichzeitig für Abwechslung sorgt.
Wenn Gemüse Geschichten erzählt
Was die Hobbygärtnerin an historischen Gemüsesorten besonders fasziniert, sind die Geschichten, die sie mit sich tragen. Jede alte Sorte verbindet sie mit einer bestimmten Region, einer Zeit oder sogar mit konkreten Menschen, die diese Pflanzen über Generationen bewahrt haben. Wenn sie Bamberger Hörnchen erntet, denkt sie an die fränkischen Gärtner, die diese Kartoffel seit dem 19. Jahrhundert kultivieren. Beim Anblick von Palmkohl vor ihrem Küchenfenster sieht sie die toskanischen Hügel vor sich, wo dieser Kohl traditionell zur Ribollita verarbeitet wird. Diese kulturelle Dimension des Gärtnerns erfüllt Dörthe Priesmeier mit Freude und gibt ihrem Hobby eine Tiefe, die über das reine Produzieren von Lebensmitteln weit hinausgeht.




